Freitag, 30. April 2010

Über das Unbehagen an der Mathematisierung der Physik.

von Josef Honerkamp
Wer Physik studieren will, muss in den ersten Semestern erst durch eine harte mathematische Schulung gehen. Da scheiden sich nun schon die Geister, denn die höhere Mathematik ist und bleibt für viele ein Buch mit sieben Siegeln; ich glaube, es gibt eine eindeutige Begabung für Mathematik so wie es diese auch für die Musik gibt. Das ist auch das Problem bei der Vermittlung der Physik: Man kann immer nur mehr oder weniger treffend übersetzen oder von den Gleichungen erzählen, aber das ersetzt nicht das Erleben.
Wer einmal selbst die Berechnungen der Planetenbahnen vollzogen hat, selbst aus den Maxwell-Gleichungen abgeleitet hat, dass es elektromagnetischen Wellen geben muss, wer die Energieniveaus eines Elektrons in einem Atom selbst aus der Schrödinger-Gleichung berechnet hat, der ist überzeugt davon, wie mächtig und verlässlich diese Methode der Erkenntnis ist.

Diese Erfahrung prägt natürlich auch das Weltbild und die allgemeine Ansicht über Wissenschaft überhaupt. So werden Physiker, ja Naturwissenschaftler allgemein, meistens zu Naturalisten: Alles in der Natur "geht mit rechten Dingen zu", d.h. alles wird in der Natur nach bestimmten Gesetzen zugehen, die, wenn nicht schon bekannt, irgendwann formuliert werden können; eine Einwirkung eines übernatürlichen Akteurs wird nie und nirgendswo unzweifelhaft nachzuweisen sein. Andererseits: Wer Schätze tief im Boden gefunden hat, steht in Gefahr, Regenwürmer zu verachten und zu vergessen, dass nicht überall der Boden so beschaffen ist, dass tiefes Graben möglich ist. So erscheint der Physiker manchmal arrogant und seine Erwartungen an die Methode, auch wenn die bisherigen Erfolge so beeindruckend sind, sind oft zu hoch geschraubt. Man denke nur an die Zeit, als die Klassische Mechanik ihre größten Triumpfe feierte und man glaubte, nun bald alles mit Begriffen dieser Klassischen Mechanik verstehen zu können. Dabei hatte man schon recht damit, dass wir mit der von Galilei initiierten Methode - nämlich in der Sprache der Mathematik Hypothesen zu formulieren und diese durch das Experiment zu überprüfen - immer besser die Natur verstehen lernen. Aber über die Geschwindigkeit, mit der dieses geschehen würde, hatte man sich getäuscht und nicht geahnt, welche Vorurteile dabei in Zukunft über Bord geworfen und welche neuen Begriffe und Vorstellungen dabei entwickelt werden müssen.
Der Außenstehende kann das Erlebnis und die damit einher gehende Überzeugung gar nicht nachempfinden, selbst der Weg zu diesem Erlebnis ist ihm verschlossen. So spürt er oft er ein Unbehagen: Da gibt es eine wichtige Entwicklung mit Folgerungen, die sein Weltbild betreffen, die er aber nicht kontrollieren kann. Zwar kann er auch die Früchte anderer Wissenschaften nicht beurteilen, aber diese greifen nicht so stark in seine Vorstellungen vom Leben, von der Welt und von der Bedeutung der Wissenschaft ein. Manche wittern da sogar einen Verlust an Moral und menschlicher Wärme.
Was ist da zu tun? Die Schwierigkeiten, Mathematik zu verstehen und sie gebrauchen zu können, kann man nicht beseitigen. Es gibt eigentlich nur den Dialog, den Versuch, ständig mit einander zu reden, auf einander zu hören. Der Wissenschaftler sollte nicht so vollmundig seine Erwartungen preisgeben, der Nichtfachmann sollte nicht nur weiterhin kritische Fragen stellen sondern auch versuchen, den "Wissenschaftsbetrieb" besser kennen zu lernen, damit er die Äußerungen der Wissenschaftler auch besser einordnen kann, z.B. besser erkennen kann, was als gesichert gilt, und was noch in der Diskussion ist. Schließlich hilft auch die Kenntnis der Geschichte, nicht die der politischen Auseinandersetzungen und Kriege, sondern die der Wissenschaften. Dann sieht man, dass das Aufgeben geliebter Vorstellungen schon immer, auch den großen Wissenschaftlern, schwer gefallen ist, und das manche heute heftig bekämpften Einstellungen später zu einer Selbstverständlichkeit werden können. Deshalb: Weniger weltanschauliche Kämpfe - mehr Anschauung der Welt!

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